"Die Waffen nieder! Es wird Zeit für eine wirkliche Zeitenwende"
20. Mrz 2023
Rede von Paul Schobel bei der verdi Landeskonferenz in Baden-Württemberg am 18.03.23 (auch rechts im Download-Bereich):
"Die Waffen nieder" (Bertha von Suttner)
Wer in diesen Tagen dem Volk "aufs Maul schaut", wird mir bestätigen: Alle, zumindest
fast alle, wünschen sich nichts sehnlicher, als dass dieser gottverdammte Krieg
in der Ukraine zu Ende ginge. Da sind wir uns eins. In der Frage aber, wie denn dieser
Moloch zu stoppen sei, fliegen die Fetzen, dass es dem Teufel graust. Wer sich
da überhaupt noch traut, das Friedensfähnlein der Gewaltfreiheit zu schwenken, wird
als Naivling verspottet, als Feigling geschmäht oder als Putin-Versteher diffamiert.
Ich kann gut damit leben. Wie gerne würde ich dieses Verbrecher-Syndikat im Kreml
wirklich "verstehen", begreifen, was in den kranken Hirnen dieser Knallköpfe und vor
allem in ihren kalten Herzen vor sich geht. Doch selbst, wenn ich es verstehen könnte,
hätte ich keinerlei Verständnis! Nichts, aber auch gar nichts rechtfertigt einen solchen
Krieg!
Für Eure Anträge zur Friedenspolitik danke ich Euch sehr. Ihr beweist damit, dass
die Gewerkschaften Teil der Friedensbewegung sind und bleiben – entgegen dem
Mainstream in der Öffentlichkeit und sicher auch vielen anders Gesinnten in der Mitgliedschaft. Es ist in den Kirchen ja auch nicht anders. Wobei ich Andersdenkende,
sofern sie sich gründlich auseinandersetzen, respektiere und ihnen attestiere, dass
auch sie gute Argumente auf ihrer Seite haben.
(1)
"Im Westen nichts Neues" – dieser offensichtlich erschütternde Antikriegs-Film hat
gerade vier Oscars abgeräumt. Ich kenne nur den gleichnamigen Roman von Erich
Maria Remarque aus dem Jahr 1928. Schaudernd liest man da, wie junge Soldaten
im Ersten Weltkrieg in den Schützengräben vor Verdun verrecken – für nichts und
wieder nichts. Und was sich da in den Seelen der Menschen abspielt: "Wir sind zu
Tieren geworden, zu Mördern, wir haben aufgehört, Menschen zu sein", schreibt der
Verfasser. Für diese Worte muss man sich allerdings im Tierreich sofort entschuldigen.
Was im Krieg veranstaltet wird, ist nicht bestialisch, sondern infernalisch. Denn
der Krieg ist die Ausgeburt der Hölle. Und wir sind es, die ihm die Pforten der Unterwelt öffnen, niemand sonst.
Jeder Krieg ist ein Rückfall ins Un-Menschliche. Wir bomben uns um Jahrhunderte
zurück – ökonomisch, ökologisch, sozial und kulturell. Jeder Krieg leugnet nämlich,
was Menschsein ausmacht. Als erstes wird der Verstand demontiert. Das sind doch
Hirntote, die heute noch Krieg führen. Der IQ der Kriegstreiber schrumpft auf den einer
Panzer-Haubitze. Aber damit nicht genug: Der Krieg raubt Menschen nicht nur
den Verstand, sondern sticht ihnen direkt ins Herz und macht sie zu Kriegsmaschinen,
zu kaltblütigen Killern. Dazu hat man sie ja systematisch ausgebildet. Und dann
wundern wir uns, dass es in jedem Krieg und von allen Seiten zu Kriegsverbrechen
kommt. Ist doch klar, weil der Krieg selbst ein Verbrechen ist, und Böses immer Böses
gebiert.
(2)
"Im Westen nichts Neues" – das gilt leider auch im übertragenen Sinn: Ich schäme
mich, dass dem angeblich so zivilisierten „Westen“ angesichts dieses schändlichen
Überfalls wieder nichts anderes einfällt, als Gewalt mit Gewalt zu vergelten. Unbedacht, bedenken-los lassen wir uns in die Logik des Kriegs hineinziehen und uns das "Gesetz des Handelns" aufzwingen, als wäre militärische Gewalt alternativlos und
gleichsam gottgewollt. An Primitivität durch nichts zu überbieten, ist Krieg niemals
eine politische Option. Dieser politische Blindgänger bringt nur Tod und Verderben,
zerstört Leib und Seele der Menschen und walzt nieder, was sie geschaffen haben.
Bekanntlich haben sich mehr Vietnam-Kämpfer nach dem Krieg selbst das Leben genommen, als im Krieg gefallen sind. Das heißt: Schwer traumatisiert finden auch die
Überlebenden kaum wieder ins Leben zurück.
(3)
Entwaffnend ist nur die Gewaltlosigkeit. Und dafür stehen wir in der Friedensbewegung. Bescheuert, wer glaubt, man könne den Teufel mit dem Oberteufel austreiben. Krieg zieht unweigerlich Krieg nach sich. „Finsternis kann keine Finsternis vertreiben“, predigte einst der unvergessene Pastor Martin Luther King und fährt fort: "Das gelingt nur dem Licht. Hass kann Hass nicht austreiben. Das gelingt nur der Liebe.
Gewalt mehrt die Gewalt. Die Kettenreaktion des Bösen muss unterbrochen werden.
Sonst stürzen wir in den Abgrund der Vernichtung." Die unvergessene Bertha von
Suttner, damals als "Friedens-Berta" verspottet, bringt es mit ihren Worten auf den
Punkt: "Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegwaschen zu sollen. Nur Blut, das soll immer wieder mit Blut ausgewaschen werden."
Es ist unglaublich, mit welcher Vehemenz der Krieg, dieses Scheusal, wieder auf die
politische Bühne zurückgekehrt und salonfähig geworden ist. Ohne rot zu werden, faseln Abgeordnete, der Krieg könne nur noch auf dem „Schlachtfeld“ entschieden
werden – auf dem Schlacht-Feld! Als wär´s ein Spiel im Sandkasten werden „Panzer-
Schlachten“ vorbereitet. Kriegsdienstverweigerer mutieren über Nacht zu Rüstungsexperten. Ehemals „Friedensbewegte“ wechseln ihre Gesinnung wie ein Kostüm. Dabei wär keiner von denen bereit, einen Panzer an die Front zu fahren.
Und nun werden "Sondervermögen" für das Militär aus dem Nichts geschöpft. In einem
Wettlauf der Besessenen rüstet sich die Menschheit zu Tode. Wohl wissend
darum, dass dafür die Ressourcen dieses Planeten einfach nicht reichen. Also ist
weiterer Krieg geradezu vorprogrammiert. "Rüstung tötet auch ohne Krieg" – wie oft
und wie vergeblich haben wir diesen Satz immer wieder deklamiert. Ohne Abrüstung
wird die Menschheit nicht überleben.
Krieg ist der Anfang vom Ende. Jeder Krieg ist schon beim ersten Schuss verloren –
für beide Seiten. Drei Generationen lang wird es dauern, sagen die Friedensforscher,
bis auch in diesem Fall der Hass überwunden ist und die beiden Brudervölker wieder
zueinander finden. Wo ist da der Gewinn? Je länger der Krieg dauert, desto größer
die Gefahr, dass es die NATO – und sei es auch nur aus Versehen – doch noch hineinzieht. (Was sich da vor wenigen Nächten über dem Schwarzen Meer abspielte,
wäre um ein Haar wieder zum Auslöser eines dritten Weltkriegs geworden. Der wird
der letzte sein, denn er mündet in einem nuklearen Inferno.)
Schon stehen die Zeiger der Welt-Untergangs-Uhr auf 90 Sekunden vor Zwölf. Und
wir glauben immer noch, der Verstand der Machthaber werde im letzten Augenblick
eine Katastrophe verhindern. Der Verstand wird in jedem Krieg als erstes ausgeknipst.
Das Überleben der Menschheit hängt gegenwärtig am seidenen Faden einer
Befehlsverweigerung. Und darauf hoffe ich und darum bete ich, dass im letzten Moment ein verantwortlicher Militär verweigert, was ihm ein Idiot befiehlt. Ich nehme die Warnungen der Generale sehr ernst – die wissen, wovon sie reden. Wehe, wenn dieser Krieg weiter eskaliert. Daher gibt es im Moment nur eine einzige real-politische
Forderung: Waffenstillstand, und zwar sofort, um dann Friedensverhandlungen aufzunehmen.
(4)
Daher muss Schluss sein, vorbehaltlos, bedingungslos weiterhin Waffen zu liefern.
Sie befeuern und verlängern nur den Krieg. Wenn überhaupt Waffenlieferungen,
dann müssen sie mit der Bedingung verknüpft sein, einen ersten kleinen Schritt auf
einen Waffenstillstand hin zu versuchen. Wenn nicht, geht jede Munitionskiste ungeöffnet an den Empfänger zurück! Nur Waffen zu liefern ohne ein Friedenskonzept,
das ist doch keine Politik! So furchtbar es ist: Man muss sogar – das lehrt die Weltgeschichte – Despoten und Diktatoren immer wieder Friedensangebote hinhalten wie einen Mantel. Der Kreml müsste nun von Friedenswilligen aus aller Welt umzingelt sein, von großen Geistern auch. Uns retten nur noch Diplomatie und Friedensangebote. Wenn nicht, bleibt nur ein Erschöpfungs- und Zermürbungskrieg, wie er im schon im 30-jährigen Krieg und an der Westfront des Ersten Weltkriegs leidvoll exerziert worden ist – mit Abertausenden Toten und verwüsteten Landstrichen. Und dann wird man sich eines Tages doch über rauchenden Trümmern und Massengräbern eines Tages verständigen müssen. Geht das nicht auch ein bisschen früher? Friede wird erst, wenn die Waffen schweigen.
Mich bedrängt immer mehr die Frage: Wer hat an diesem Krieg eigentlich Interesse?
Wer oder was veranlasste einen Boris Johnson im März 2022 nach Istanbul zu reisen?
Dort lag ein fast unterschriftsreifes Waffenstillstands-Papier auf dem Tisch, als
der vermeldete, der „Westen“ sei zu diesem Zeitpunkt nicht am Ende dieses Krieges
interessiert. An was dann? Man wird den Verdacht nicht los, der Krieg ist ein Geschäftsmodell. In den Rüstungsbuden knallen die Champagner-Korken. In "Geber-
Konferenzen" – mitten im Krieg – spekuliert man auf satte Gewinne beim Wiederaufbau.
(5)
Manchmal träume ich davon, ein paar gewiefte Tarifpolitiker ins Rennen zu schicken.
Da würde zwar mit harten Bandagen, aber gewaltfrei gekämpft. Nicht selten müssen
wir zum schweren Besteck greifen und die Arbeit verweigern. (Nur am Rande vermerkt: Ich schließe mich ganz und gar Eurem Appell an: Wer das Streikreich antastet, kriegt auf die Pfoten! Ich kann das als Kirchenmann nur deswegen sagen, weil ich mein Leben lang gegen den "Dritten Weg" der Kirchen angerannt bin, bislang vergeblich!)
Tarifverträge sind Friedensverträge. Wir sind kompetent in Sachen Frieden. Aber die
Politik scheint unfähig, Konflikte friedlich zu lösen. Man müsste sie bei einer erfahrenen Erzieherin von Ver.di einmal in einen Stuhlkreis setzen. Die entwickelt mit ihren Kindern mehr Friedenskompetenz als alle Machthaber zusammen.
Ich schließe mit einem Appell an Kirchen und Gewerkschaften gleichermaßen: Wir
gehören an die Spitze der Friedensbewegung. Warum? Weil unsere Programme und
Bekenntnisse uns binden! Wir dürfen nicht Verrat an der eigenen Sache begehen.
Als weltweite Christenheit, wenn auch in vielen Bekenntnissen, sind wir als Geschwister miteinander verbunden. In den Gewerkschaften schwören wir auf die internationale Solidarität mit allen Kolleginnen und Kollegen. Also können und dürfen wird nicht dulden, dass irgendwo auf der Welt unsere jungen Leute als Kanonenfutter verheizt und in ihren Stellungen zerfetzt werden oder in Panzern verglühen. Wir nehmen nicht hin, dass alte Männer, die sich sehr wohl kennen, jungen Männern (und Frauen), die sich nicht kennen, befehlen, sich gegenseitig zu zerfleischen. Das nehmen
wir nicht hin! Darum protestieren und lamentieren wir ohne Unterlass gegen den
Krieg. Und wir leiden mit den Verwundeten, Verkrüppelten, Traumatisierten auf beiden Seiten der Front. Wir weinen mit den trauernden Müttern, Frauen und Kindern in Russland und in der Ukraine. Was da geschieht, darf für uns in den Kirchen um Gottes und der Menschen willen und in den Gewerkschaften um der Solidarität willen
nicht sein.
Es wird Zeit für eine wirkliche "Zeitenwende". Was in Berlin ausgerufen wurde, ist ein
"Salto mortale" rückwärts. Der bricht uns das Genick! Unsere "Zeitenwende" buchstabiert sich anders. Sie lautet: "Nieder mit den Waffen – nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!"